Eine 15-Minuten-Übung
Diese Übung mache ich immer wieder gerne und sie eignet sich sogar für zwischendurch, um in kleinen Pausen das Schreiben zu üben. Sie sorgt dafür, dass ich sprachlich wendiger und gedanklich flexibler werde. Wer sie die ersten Male macht, der sollte sich ruhig ein wenig mehr Zeit nehmen als nur die fünfzehn Minuten. Denn es braucht einige Durchgänge, bis wir es schaffen, den zeitlichen Rahmen einzuhalten. Die fünfzehn Minuten sollten dein Ziel sein, denn es geht darum, in kurzer Zeit viele kleine Entscheidungen zu treffen.
So macht diese Übung richtig Spass
Ich suche mir eine Person aus meinem Umfeld oder auch aus einer Filmszene aus. Manchmal kann das sogar ein einfaches Werbevideo sein. Du siehst also, dass du dazu nicht einmal nach draußen zu gehen brauchst. Entscheidend ist, dass du dich während du die Übung schreibst, nur auf eine Person konzentrierst.
Beispiel für dich
In einem Hamburger Café beobachte ich ein Paar. Beide haben graue Haare, sind vielleicht Anfang sechzig und unterhalten sich angeregt.
Bevor ich schreibe
Ich entscheide mich für die Frau und beginne auf einem Zettel zu sammeln, was mir besonders auffällt. Ähnlich wie es eine Malerin macht, die mit einem Bleistift Umrisse und erste Details vorzeichnet, fasse ich meine Beobachtung zunächst in eigene Worte, bevor ich dann später Akzente setze oder mir einen Zusammenhang ausdenke.
Mein Vorbild
Die Person, die ich beobachte, wird zu meinem Vorbild für eine Figur. Ich beginne nun also zu notieren, was mir an dieser Frau besonders auffällt. Der Trick an dieser Übung ist, dass ich dabei nicht lange nachdenke. Woran mein Blick hängen bleibt, das halte ich einfach in wenigen und beschreibenden Stichworten fest.
mein Tipp
Ich kombiniere oft ein objektives Detail mit einer persönlichen Bewertung und achte hierbei besonders darauf, dass es bei einer kurzen Beschreibung bleibt.
- Kurze graue Haare
- Eine runde extravagante Brille
- Teure Boots
- Wache Augen
- Dramatische Mimik
- Dezenter Schmuck
- Kuchen und Aperol
- Zierliche Statur
- Vielleicht Ende 60
Ich entscheide mich für einen Zusammenhang
Jetzt sehe ich mir an, welche Einzelheiten ich festgehalten habe und denke mir eine Bedeutung aus. Ab hier verlasse ich die Beschreibung der echten Person und erschaffe mir meine eigene Figur. Das Vorbild dient mir also als echte Anregung für eine ausgedachte Figur. Ich persönlich übe mich gerne in Übertreibungen, das bedeutet, dass aus vielleicht unbedeutenden Details symbolträchtige Zeichen entstehen.
- Kurze graue Haare => möchte vielleicht tough wirken
- Eine runde kleine Brille => möchte intellektuell wirken
- Hochpreisige Boots => gibt sich naturverbunden und achtet dabei auf Qualität
- Wache Augen => sie kennt ihre Begleitung noch nicht lange und ist noch neugierig
- Lebendige Mimik => sie sucht noch nach einer Rolle, in der sie sich gefällt
- Kuchen und Aperol => sie möchte sich etwas gönnen und das mit Stil
Der Hinweis
Zugegeben, nicht selten entstehen auf diese Weise sehr kritische und vielleicht sogar bösartige Beschreibungen, aber vergessen wir an dieser Stelle nicht, dass es sich um eine Interpretation handelt, die nichts mehr mit der beobachteten Person zu tun hat. Und wer mag, der kann ja auch ausschließlich wohlwollende Beschreibungen verfassen.
Dein Text
Wichtig ist, dass du dein Vorbild jetzt vor Augen behältst. Denn Erinnerungen kosten uns viel Energie. In dieser Übung bleibt dir viel mehr Zeit zum Schreiben, wenn die Person, über die du jetzt schreibst, noch vor dir sitzt oder du den Filmausschnitt mehrmals sehen kannst.
Du beginnst jetzt mit dem, was dir zuerst einfällt. Mache dir bewusst, dass es für dich am einfachsten ist, wenn du ungeplant vorgehst: Also einfach losschreiben!
Ich schreibe diese Art von Texten meist als Ich-Erzähler und in der Gegenwart, denn schließlich bin ich es ja auch, der die Situation erlebt oder gerade erlebt hat. Du wirst feststellen, dass es dir auf diese Weise leichter fällt.
Das Schreiben
Das Tolle an dieser Übung ist, dass du dir in dem vorgegebenen Zeitraum selbst aussuchen kannst, wozu dich dein Vorbild inspiriert. Ob es das rein Äußere, eine bevorstehende Reise oder einen Grund zu feiern gibt: Nur du entscheidest, was deine Figur denkt, erlebt oder als nächstes tun wird.
Unser Beispiel für dich
Ich nenne die Frau Janine und sie stützt gerade ihr Kinn auf ihre verschränkten Hände. Sie lächelt ihren Begleiter dabei vielleicht eine Spur zu breit an. Vielleicht lernen sie sich gerade kennen und sie weiss noch nicht so recht, wie sie sich präsentieren möchte. Die beiden haben Aperol und Kuchen bestellt. Sie unterhalten sich leise. Janine ist zierlich und trägt Kleidung, mit der sie anderen vermitteln möchte, dass sie Geschmack hat. Sicher ist sie auf dem besten Weg, sich in ihren Begleiter zu verlieben. Auf keinen Fall soll er denken, dass sie langweilig ist. Janine wäre gern Museumsdirektorin, Professorin oder wenigstens Lehrerin geworden. In ihren Augen hat sie zu wenig erreicht und das versucht sie mit teurer Kleidung, auffallenden Accessoires – wie der extravaganten Brille – und einem Pixie Cut zu kompensieren. Alles zusammen wirkt etwas dick aufgetragen, aber da sie es nicht so sieht, trägt sie es stolz und wirkt glücklich damit.
Der Sinn dieser Übung
Ich bin immer etwas kritisch, wenn es in Schreibratgebern oft heißt, dass man doch bitte einfach losschreiben solle, es würde sich schon etwas Kreatives daraus ergeben. Diese Übung unterscheidet sich insofern, dass wir eine Person haben, auf die wir uns konzentrieren. Es gibt also ein Vorbild, das wir interpretieren. Dass wir mit einigen Vorgaben dann etwas Neues daraus machen, ermöglicht uns einen Lernprozess. Durch viele Wiederholungen können wir unterschiedliche Stilrichtungen und Situationen ausprobieren, ohne uns gleich eine ganze Geschichte vorzunehmen, die wir möglicherweise nie beginnen.