Ohne Worte

Beinahe jeder, dem ihre Narben auffielen, sah mehrmals hin. Selbst diejenigen, von denen sich Emilia vorstellte, dass sie ihren Kindern sicher Respekt und Toleranz beibrachten. Ihre Arme und Beine, deren Haut für Emilia nach den vielen OPs schon fast wieder normal aussah, wirkten auf viele ihrer Mitmenschen scheinbar wie die Haut einer Echse. Sie fühlte sich wie ein Zootier oder ein Autounfall auf der Autobahn: Fast jeder nahm sich das Recht, etwas genauer und länger hinzusehen. Lange hatte sie die Narben auf ihrem Körper versteckt, aber nun war es Sommer und sie trug T-Shirts und kurze Hosen. Wie all die anderen jungen Menschen auch. Sie hatte es satt, sich zu verstecken. Sollten es doch alle sehen und damit zurechtkommen. Ihr gefiel auch vieles nicht, was sie sah. Starrte sie die Menschen deshalb an? Nicht wenige waren sogar so neugierig, dass sie fragten, was ihr denn Schreckliches passiert sei. 

Anfangs hatte Emilia aus einem Reflex noch von einem Unfall erzählt. Doch den hatte es nie gegeben und jedesmal, wenn sie in die Gesichter sah, dann widerte sie die Mischung aus falschem Mitleid, Grusel und Sensationsgier an. Warum sollte sie sich etwas ausdenken, was in deren Vorstellung passte? Sie überlegte lange, was sie diesen anstandslosen Menschen entgegnen könnte, ohne zu viel von sich preiszugeben. Denn die Narben zeugten von einer Zeit, die sie längst hinter sich gelassen hatte. Es ging ihr gut und endlich lebte sie das Leben, das so lange für sie unerreichbar schien. Und plötzlich kannte Emilia die einzige Antwort, die ihre Mitmenschen auf diese Frage verdient hatten. Und als sie wenige Tage später in einem Zug von einer Frau, die dabei ein mitleidiges Gesicht aufsetzte, wieder einmal gefragt wurde, da grinste Emilia die Frau einen Moment wortlos an, bevor sie dann aufstand und den Wagen wechselte. 

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